Ich gestehe: Auch nach mehr als sieben Jahren in den Vereinigten Staaten stehe ich mit der Trinkgeld-Kultur auf Kriegsfuss. Das hat nichts mit Geiz zu tun. Aber ich finde es stossend, wenn ich in einem Restaurant ein Trinkgeld von mehr als 20 Prozent des Rechnungsbetrags bezahlen soll, selbst wenn der Service hundsmiserabel war.
Aber ich verstehe, warum das von mir erwartet wird: Die Löhne im US-Gastgewerbe sind dermassen tief, dass eine Kellnerin oder ein Kellner auf zusätzliche Einnahmen angewiesen ist. In 17 der 50 US-Bundesstaaten beträgt der garantierte Mindestlohn für das Servicepersonal gerade mal 2 Dollar und 13 Cents pro Stunde – umgerechnet etwas mehr als 2 Franken. Deshalb war ich bisher immer grosszügig. Selbst bei schlechtem Service.
Das hat nun allerdings ein Ende. Zumindest in der «Bar Marco» in Pittsburgh (Pennsylvania), einem kleinen Restaurant mit 32 Sitzplätzen. Im Frühjahr wagte Bobby Fry, der Besitzer des Bistros, einen mutigen Schritt. «Wir akzeptieren keine Trinkgelder», heisst es seither auf der täglich wechselnden Speisekarte. Stattdessen erhalten nun seine Angestellten einen Grundlohn von 35000 Dollar pro Jahr plus Gewinnbeteiligung. Damit ist Fry Teil einer kleinen Revolution im Gastgewerbe der USA. Denn bisher gibt es landesweit nur etwa 20 Restaurants, die keine Trinkgelder akzeptieren.
Finanziell lohne sich das, behauptet Besitzer Bobby Fry. Auch dadurch, dass er die Preise leicht erhöht und die Portionen kleiner gemacht hat. Und auch durch die Gratiswerbung, die die «Bar Marco» erhalten hat. Denn selbst überregionale Zeitungen berichteten über das Lokal. Satt wird man in der «Bar Marco» übrigens durchaus, wie mein Selbstversuch zeigte. Als Vorspeise wird «Pig’s Head Croquettes» serviert, eine verspielte Kartoffel-Kreation. Und als Hauptgericht ein deftiges «Lamb Stew» mit erdigen Gewürzen.
Probleme mit schlechtem Service gibt es in der «Bar Marco» nicht. Die Belegschaft sei durch die neuen Regeln gut motiviert, sagt der junge Kellner Dolan Kneitz. Dann präsentiert er mir die Rechnung: 34 Dollar und 24 Cent für zwei Gänge und einen schmackhaften Kaffee. Ein angemessener Preis für eine gute Mahlzeit. Und weil die lästige Berechnung des Trinkgelds entfällt, habe ich Zeit für eine letzte Frage: Was macht ihr denn, wenn der Gast auf dem Trinkgeld besteht? Dann, so der Kellner, spendet «Bar Marco» das Geld an ein Hilfswerk.