Schweizer Bergwiesen sind im Frühling mit einem Teppich von Blumen bedeckt. Hoch oben auf dem tibetischen Plateau hingegen beginnt dann erst der Schnee zu schmelzen. Darauf folgt eine arbeitsintensive Zeit: Die Menschen machen sich auf den Weg in die Berge, um den sogenannten Raupenpilz zu sammeln.
Dieser kleine Schlauchpilz, der aus dem Inneren von toten Raupen wächst, wird etwa fünf bis sechs Zentimeter lang. In China ist er sehr begehrt. Er dient der Herstellung von teuren Arznei- und Nahrungsergänzungsmitteln. Tibetische und chinesische Ärzte waren schon früher mit dem Raupenpilz vertraut, heute ist seine Popularität immens angestiegen. Für die beste Qualität von Raupenpilz werden in Tibet bis zu 20'000 Franken pro Kilo bezahlt, in China noch deutlich mehr.
Ganze Familien ziehen im Frühjahr in die Berge, um den Raupenpilz mit einer Metallhacke aus dem Boden zu stechen. Sichtbar ist nur die Spitze des Pilzes, die sich zwischen den ersten Grashalmen versteckt. Der Rest ruht in der Erde, sodass die Suche nach dem Pilz der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen gleicht. Geübte Sammler finden den teuren Pilz kiloweise. Diesen verkaufen sie später an chinesische Händler, die zu dieser Zeit aus der Stadt in die entlegenen Bergregionen strömen.
Will der Sammler die Pilze nicht sofort verkaufen, kann er sie nach Hause nehmen und am Ofen trocknen. Der Raupenpilz verliert dabei nicht an Qualität. Sobald er getrocknet ist, kann er lange aufbewahrt und erst verkauft werden, wenn der Preis weiter ansteigt. Das ist im Winter der Fall. Der Raupenpilz dient somit auch als Kapitalanlage. Deshalb wird er oft zusammen mit anderen Wertgegenständen, etwa mit Schmuck und Familienunterlagen, in einem Tresor aufbewahrt.
Der Raupenpilz lässt sich auch als alternatives Zahlungsmittel verwenden, da in den Bergdörfern alle wissen, wie viel ein einzelner Raupenpilz kostet. Auf dem Markt sieht man häufig Leute, die Einkäufe mit trockenen Pilzen bezahlen. So spart man Zeit und muss nicht extra Händler aufsuchen, die in ihren kleinen Läden mit Waage und Taschenrechner auf die aus den Bergen kommenden Sammler warten.
Viele Familien erwirtschaften den Grossteil ihres Einkommens mit dem Verkauf des Raupenpilzes. Seine wirtschaftliche Bedeutung widerspiegelt sich sogar im Schulzyklus: Im Frühjahr gibt es einen Monat lang Schulferien, damit die Kinder ihren Eltern beim Sammeln helfen können. Auch darum ist der Raupenpilz in aller Munde: Wenn man auf der Strasse jemanden trifft, verschwendet man keine Zeit mit dem üblichen Klatsch oder dem Gespräch über das Wetter. Vielmehr spricht man über den Raupenpilz.