Kürzlich zahlte ich für den frisch gepressten Orangensaft 2 Lira – 85 Rappen – weniger als sonst. Auch mein Simit, der traditionelle Brotkringel, war günstiger als tags zuvor. Ob die Preise in meinem Stammcafé am Ufer des Bosporus etwas mit dem Wochentag zu tun haben? Oder mit der Laune des Kellners? Tatsache ist, dass ich jeden Morgen nach dem Joggen das Gleiche bestelle: heissen Tee, ein Sesam-Simit und Orangensaft. Nach der Logik von Adam Riese müsste dies eigentlich immer gleich viel kosten. Tut es aber nicht.
Auch mein Coiffeur hat eine flexible Preispolitik. Einmal wird die Kopfmassage extra berechnet, das andere Mal ist sie beim Waschen-Föhnen inbegriffen. Richtig interessant wird es, wenn ich bar zahle. Dann gewährt mir Kuaför Samir 25 Prozent Rabatt. «Win-win» nennt er das. Ich gewinne, er gewinnt – wer verliert, interessiert ihn nicht.
Etwas ist dem Café- und dem Coiffeurbesuch gemeinsam: Der Gesamtpreis wird nach einer längeren, mehr oder weniger zelebrierten Konzentrationsphase spontan auf einen Fresszettel gekritzelt. Sobald der Kunde die Zahlen entziffert hat, wird der Zettel wieder behändigt, zerknüllt und vernichtet. Die Vermutung bei Kua-för Samir liegt nahe, dass er die eine oder andere Kundin schwarz bedient und so auf ein geringeres steuerbares Einkommen abzielt.
In der türkischen Gesellschaft scheint Steuerhinterziehung ein Kavaliersdelikt zu sein. Fast jeder hat diesbezüglich etwas auf dem Kerbholz. Die einen organisieren sich auf abenteuerliche Weise ihre Autos aus Deutschland, um der 100-Prozent-Luxussteuer ein Schnippchen zu schlagen. Andere arbeiten schwarz in Zweitjobs und scheuen eine Banküberweisung des Entgelts wie der Teufel das Weihwasser. So wie meine Sprachlehrerin, die bei mir nach jeder Lektion charmant ihren Lohn einkassiert – bar.
Ob auch bei der flatterhaften Preispolitik im Ufercafé Geld am Fiskus vorbeigeschleust wird? Wohl eher in die eigene Tasche der Kellner. Ich beschloss, dem Phänomen nachzugehen und direkt zu fragen. Die Unterhaltung war kompliziert – kurz: Ich habe das Geheimnis nicht gelüftet, dafür aber ein neues Rätsel geschaffen: Denn seit unserem Gespräch kosten mich meine Café-Besuche immer genau gleich viel, egal, ob ich meine Stammbestellung aufgebe oder sie mit einem Toastbrot und Konfitüre, einem Oliven-Tomaten-Käseteller oder auch einem Rührei erweitere.