In einer Istanbuler Wechselstube blättert Ferruh Ayaz einen Geldschein nach dem anderen auf den Tisch. Wie Millionen seiner Landsleute tauscht er häufig türkische Lira in US-Dollar oder Euro um. Ayaz hat die Wechselkurse stets im Blick. Seit Jahren verliert die türkische Lira massiv an Wert. Daher lohnt sich das Wechseln. «Die Leute bringen ihr Geld in Sicherheit», erklärt er.
Die Türken haben das Vertrauen in die eigene Währung längst verloren. Gemessen an Dollar oder Franken, ist die Lira in den vergangenen vier Jahren um rund 60 Prozent abgestürzt. Seit Februar dieses Jahres beträgt der Verlust nahezu 20 Prozent. Ein Ende der Talfahrt ist nicht in Sicht. Viele Investoren ziehen ihr Geld aus der Türkei ab. Gründe dafür sind hausgemachte Probleme wie die hohe Unternehmensverschuldung und die Einmischung der türkischen Regierung in die Geldpolitik der Zentralbank. Dazu kommen die Coronapandemie und die Erwartung einer Zinserhöhung in den USA.
Im vergangenen Jahr rutschten nach Angaben der Weltbank rund 1,6 Millionen Bürger im Land unter die Armutsgrenze. Lebensmittel verteuern sich alljährlich um 20 Prozent. Die Arbeitslosigkeit von offiziell 14 Prozent dürfte in den nächsten Monaten weiter steigen. Denn Anfang Juli lief ein pandemiebedingtes Kündigungsverbot aus.
Immerhin können die Türken auf frühere Erfahrungen mit schwacher Währung zurückgreifen. In den 1990er-Jahren lebten sie mit Inflationsraten von zeitweise mehr als 100 Prozent. Sie lernten, auf ausländische Währungen zu setzen. Auch Gold ist als sicherer Hafen für Geld beliebt. Zwar hat die Türkei eigene Goldminen, aber die Einheimischen kaufen so viel Edelmetall, dass das Land im vergangenen Jahr Gold im Rekordwert von 26,6 Milliarden Dollar importieren musste – rund doppelt so viel wie 2019. Der Preis für ein Gramm Gold hat sich innerhalb von zwei Jahren fast verdoppelt. Gekauft wird trotzdem.
Die Regierung versucht zwar, die Bürger mit Appellen an den Patriotismus zur Rückkehr zur Lira zu bewegen. Doch die Aufrufe werden ignoriert. Bis sich die wirtschaftlichen Aussichten aufhellen, setzen die Türken lieber auf Dollar, Euro und Gold. Auch Ferruh Ayaz rechnet mit einer weiterhin schwächelnden einheimischen Währung und sieht kaum Besserung: «Wer weiss schon, wie lange das noch dauern wird?»