Ein Haus inmitten der weiten Steppe: An der Wand hängen eine Schiffsglocke, ein Steuerrad, ein paar Waffen und ein Porträt des russischen Präsidenten Wladimir Putin in Seemannsuniform. Die Fenster sehen aus wie Bullaugen eines Schiffs. Das nächste Meer ist allerdings etwa 2000 Kilometer entfernt. Denn das Haus liegt in Sibirien.
Wir befinden uns in der Nähe von Ulan-Ude, der Hauptstadt von Burjatien, einer autonomen Republik in Russland. Hier wohnt der 70-jährige Genadii Gaschinov, ein ehemaliger Matrose. Zehn Jahre lang leistete er Armeedienst auf einem sowjetischen U-Boot im Weissen Meer im Norden Russlands. Eines Tages rief ihn der Kommandant zu sich und forderte ihn auf, nach Hause zu gehen. Sein Grossvater, ein Schamane, lag auf dem Sterbebett und hatte Genadii Gaschinov zu seinem Nachfolger ernannt.
Während der Zeit des Kommunismus war der Schamanismus, die uralte Religion Sibiriens, verboten. Aber die Tradition überlebte im Verborgenen und tauchte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wieder auf. Heute ist Gaschinov einer von Hunderten von Schamanen in der Region. Er ist spezialisiert auf das Ritual der sogenannten Wegöffnung. Mit Hilfe von Geistern kann er angeblich den Weg zum Geschäftserfolg ebnen. Unternehmer kommen zu ihm, um ihren Umsatz zu steigern und Hindernisse in der Firmenentwicklung zu beseitigen.
Ich buche einen Termin, um zu sehen, wie das Ritual abläuft. Als Opfergabe für die Geister bringe ich ein Kilo Reis mit, dazu eine Flasche Wodka, Tee, Zigaretten und ein Säckchen Oregano. Die Geister mögen anregende Gerüche. Gaschinov verbrennt in einem Metallkessel die Zigaretten und Oreganoblätter, dann giesst er Wodka über das Feuer. Mit geschlossenen Augen beschwört er die Geister und bittet um Hilfe für mehr wirtschaftlichen Erfolg.
Eine feste Preisliste gibt es nicht. Jeder zahlt, was er für richtig hält. Ich lasse 1000 Rubel auf dem Tisch liegen, umgerechnet etwa 10 Franken. Reiche Kunden, die ihrem Geschäft zu schnellem Erfolg verhelfen wollen, zahlen wesentlich mehr. Einen dieser Kunden treffe ich vor der Tür. Der 42-jährige Russe importiert Occasionsautos aus Südkorea. Doch in letzter Zeit stagniert das Geschäft. Es gab lästige Kontrollen der Zollbehörden, und Kunden stornierten ihre Aufträge.
Der Autohändler behauptet, irgendein Konkurrent habe ein schlechtes Omen auf seine Firma geworfen. Seit drei Monaten versucht nun der Schamane, die Quelle dieses Unglücks zu finden. 50'000 Rubel (450 Franken) blätterte der Händler bisher für die Rituale hin. Das entspricht knapp dem Durchschnittseinkommen pro Monat in Burjatien. Langsam, sagt der Händler, spüre er positive Auswirkungen: Die Zollbehörde liess eine weitere Fahrzeuglieferung die Grenze passieren und stellte das Verfahren wegen unbezahlter Zölle ein.