Besitzt jemand im Alter von 32 Jahren 16 Hektaren Rebfläche an bester Lage am Neuenburgersee, war wohl eine Erbschaft im Spiel. Im Fall von Henry Grosjean ist es eine Vorerbschaft.
Im vergangenen Jahr übernahm er das Weingut von seinem Vater. Seither führt er den Betrieb mit 18 Angestellten, während der Ernte kommen nochmals 50 Helfer dazu. Grosjean keltert 15 Weine aus sieben Traubensorten. Insgesamt bewirtschaftet er 60 Hektaren. Das ergibt rund 450'000 Flaschen pro Jahr.
Das Weingut gehört zum Château d’Auvernier, einem 460 Jahre alten Schloss am Fusse der Weinberge südlich von Neuenburg. Seit 400 Jahren sind Schloss und Weinberge im Besitz der Familie. Henry Grosjean und seine drei Geschwister bilden die 15. Generation.
Jede Generation hat die Aufgabe, in der Familie einen Nachfolger zu suchen und aufzubauen. Es zeichnete sich schon lange ab, dass Henry den Betrieb dereinst übernehmen würde. Er erfüllte die Vorgaben seines Vaters Thierry Grosjean, eines ehemaligen Regierungsrats des Kantons Neuenburg: Handelsschule, Winzerlehre in der Deutschschweiz, Weiterbildung zum Önologen und im Militär zum Offizier. Henry Grosjean spricht wie ein Grossteil seiner Kunden Schweizerdeutsch und sagt: «Die Offiziersschule ist eine gute Führungsschule. Seit ich Offizier bin, reden mein Vater und ich die gleiche Sprache.»
Als Henry den Betrieb übernahm, steckten seine drei Geschwister zurück. Sie verzichteten zugunsten der Familie und für den weiteren Erhalt von Schloss und Weingut auf ihren Anteil. Henry wäre nicht in der Lage gewesen, seine Geschwister auszuzahlen. Die Familie hätte den Betrieb aufgeben müssen. Er sagt: «Wir müssen unsere privaten Interessen hintanstellen, um unseren Besitz an die künftige Generation weitergeben zu können. Das wissen auch meine Geschwister.»
Seit diesem Jahr sind das Schloss und alle anderen Gebäude im Eigentum einer Aktiengesellschaft. Alleinaktionär ist Vater Thierry Grosjean. Sein Sohn betreibt das Weingut als selbständiger Unternehmer. Er sagt dazu: «Wenn der Betrieb bankrottgeht, ist nur das Weingut gefährdet, aber nicht das Schloss. Wenn das passiert, muss ich mich so schnell wie möglich zurückziehen, und eines meiner Geschwister muss übernehmen. Das ist uns allen bewusst.»
Die Familie gründete gleichzeitig auch ein Kontrollorgan. In diesem sitzen Henrys Geschwister und sein Schwager, der im Betrieb für die Weinberge verantwortlich ist. Hinzu kommen zwei Externe – nicht aber sein Vater. «Er wollte nicht der Alte sein, der immer sagt, früher hätten sie es so und so gemacht.» Sie setzten auch einen «pacte familiale» auf: einen Vertrag, der Henry Leitplanken vorgibt, innerhalb derer er zu handeln hat, beispielsweise bei der Personalführung und der Investition in Maschinen. Im «pacte» steht auch, dass Henry mit den Einnahmen aus dem Weinverkauf nicht an der Börse spekulieren darf.
Für das Privileg, an einem der wohl schönsten Arbeitsplätze der Schweiz tätig zu sein, nimmt Henry Grosjean viel in Kauf. «Meine Arbeit ist nie zu Ende, mehr als drei bis dreieinhalb Wochen Ferien im Jahr liegen nicht drin. Aber das stört mich nicht. Wenn der Betrieb atmet, atme auch ich.»
Mit dem Verkauf des Weines erwirtschaftet Henry Grosjean je nach Wetter drei bis vier Millionen Franken pro Jahr. Der Gewinn wird in den Unterhalt des Schlosses investiert, in eine neue Heizung, in neue Fensterläden. Es steht immer etwas an. Einen allfälligen Überschuss verteilt der Vater an Henrys drei Geschwister. Auch das steht im «pacte familiale».
In einem guten Jahr verdient Henry Grosjean rund 100'000 Franken. «Wenn es schlecht läuft, bin ich jeweils froh, dass meine Frau als Krankenschwester arbeitet.» Der Winzer hofft, dass dereinst sein Sohn den Betrieb übernimmt. «Ich werde ihn aber nicht unter Druck setzen. Falls er keine Lust hat, wird ein anderer aus der 16. Generation übernehmen.»