Nicolas Engel (37) entschied sich spät fürs Klavier, dann aber mit aller Konsequenz: Als Zehnjähriger begann der Bieler, Klavierunterricht zu nehmen. Mit 16 Jahren wuchs der Wunsch, Musik zu studieren. Engel war damals technisch noch nicht gut genug und musste viel üben, um die Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule Luzern zu bestehen.
Das Studium dauerte sieben Jahre, Engel schloss es mit dem Master in Music und Art Performance sowie dem Master in Musikpädagogik ab. Parallel dazu gab er Musikunterricht. Er konnte sich damit seinen Lebensunterhalt verdienen. Aber sein Traum, eine Karriere als Musiker, blieb unerfüllt.
Ein befreundeter Musiker erzählte dem heute 37-Jährigen irgendwann, er spiele Piano auf der Strasse und verdiene ganz gut damit. Das kann ich auch, sagte sich Engel. So liess sich sein Traum erfüllen, ohne dass er sich von einem Orchester anstellen lassen musste. «Denn das interessierte mich nicht», sagt Engel.
Er gab seinen Job als Musiklehrer auf, kaufte ein winziges Spielzeugpiano, setzte sich damit an die Strassen von Biel BE und begann zu spielen – fünf bis sechs Stunden täglich: eigene Stücke, Covers und oft traumwandlerische Improvisationen, welche die Passanten in ihren Bann zogen. Neben seinem Piano lagen zwei Hüte. Im einen landete die Kollekte für seinen Lebensunterhalt, der andere diente als Crowdfunding für einen Steinway-Flügel. Das Geschäft lief gut, der zweite Hut sorgte für Aufmerksamkeit. Auch die Steinway Piano Gallery in Lausanne wurde auf Engel aufmerksam und stellte ihm für Auftritte in Biel und Twann einen Flügel zur Verfügung.
Engel kaufte ein grösseres Klavier, 70 Kilo schwer, mit dem er noch heute in Städten in der Schweiz und im Ausland spielt. Zurzeit lebt er, befristet bis Ende 2024, in einer günstigen Wohnung in Zürich, karrt das Klavier bei schönem Wetter täglich im 11er-Tram ans Bellevue in Zürich und legt seine Melodien über die Seepromenade.
Zuvor reiste er mit seinem Piano durch Italien, Frankreich und Spanien und lebte lange in Berlin. Immer wieder kommt es zu Begegnungen mit anderen Musikern und Tänzerinnen. Oft ergeben sich daraus spontane gemeinsame Performances, manchmal entwickeln sich auch längerfristige Projekte.
Engel hat inzwischen sieben CDs herausgegeben. Er legt sie zum Kauf auf, wenn er auf der Strasse spielt. Er verkauft etwa eine CD pro Tag. Das Spiel auf der Strasse reizt Engel nach wie vor, er möchte seine Einnahmequellen aber verbreitern. Er sucht deshalb immer wieder Engagements für Auftritte in Konzertlokalen sowie an Privatanlässen, macht Koproduktionen und übernimmt Werbeaufträge.
Engels Auftritte auf der Strasse dauern jeweils zwei bis drei Stunden und bringen ihm durchschnittlich 70 Franken pro Stunde ein. Insgesamt verdient er zwischen 2000 und 4000 Franken pro Monat – etwa die Hälfte davon stammt aus der Strassenmusik, 40 Prozent machen Konzerte aus und den Rest seine weiteren Aktivitäten. «Alles wird korrekt versteuert», sagt er. Er sei angemeldet als selbständig Erwerbender. Darauf ist er stolz.
Für den Steinway-Flügel sammelte Engel bis heute rund 40'000 Franken. Das Instrument kostet etwa 90'000 Franken. Der Flügel hat für Engel zurzeit nicht Priorität: «Vielleicht kann ich ihn erst kaufen, wenn ich 70 Jahre alt bin.» Wichtiger sind ihm der Kontakt zu den Leuten, die Reisen mit seinem Piano und die Freiheit als Strassenmusiker. Er sagt: «Auf die Strasse wirst du nicht eingeladen, du musst einfach hingehen.»