Der Grundsatz ist klar: Wer eine Obligation besitzt, erhält in der Regel jährlich einen Zins – und diesen Zins muss der Besitzer der Obligation in der Steuererklärung als Einkommen deklarieren. Ist bei einer Obligation die jährliche Zinszahlung beispielsweise auf den 30. April angesetzt, so geht der ganze Jahreszins für die letzten zwölf Monate an diesem Zinstermin an den aktuellen Besitzer der Anleihe. Und dieser muss den ganzen sogenannten Coupon versteuern.
Doch Obligationen werden an den Börsen rege gehandelt. Dann gilt: Wer eine Obligation kurz vor dem jährlichen Zinstermin verkauft, kassiert dennoch einen anteilmässigen Pro-rata-Zins für die Zeit, in der er die Obligation gehalten hat – und dieser sogenannte Marchzins ist steuerfrei. Das öffnet Chancen zur Steueroptimierung.
Konkret läuft das so ab: Verkauft der Besitzer seine Anleihe zum Beispiel einen Monat vor dem Zinstermin, überweist ihm die Bank den anteilsmässigen Zins für die Besitzdauer. Der Verkäufer erhält damit den Zins für elf Monate – steuerfrei. Der Käufer hingegen hat Pech: Er kassiert nur den Zinsanteil für den einen Monat, in dem er die Obligation besass. Aber er muss den ganzen Coupon versteuern.
Beispiel: Wer eine Anleihe mit einem jährlichen Zinscoupon von 2,4 Prozent zwei Monate vor dem Zinstermin verkauft, erhält steuerfrei 2,0 Prozent Zins. Der Käufer muss umgekehrt die vollen 2,4 Prozent versteuern, obwohl er effektiv nur 0,4 Prozent Zins bekommen hat (siehe Grafik).
Eine gewollte Vereinfachung für die Steuerbehörden
Der Laie wundert sich – und auch das Bundesgericht stellt fest, das lasse sich «wirtschaftlich nicht erklären». Diese Steuerpraxis habe aber «erhebungstechnische Gründe». Und diese Vereinfachung für die Steuerbehörden sei vom Gesetzgeber so gewollt. Sprich: Eine getrennte Besteuerung des anteilmässigen Zinses beim Käufer und beim Verkäufer wäre zu aufwendig.
Aus Sicht des Verkäufers lohnt es sich darum, seine Obligation möglichst noch vor dem Zinstermin abzustossen. Der Käufer dagegen hat alles Interesse, die Anleihe erst kurz nach dem Zinstermin zu erwerben.
Doch aufgepasst: Wer Anleihen systematisch vor dem Zinstermin veräussert und kurz nach dem Zinstermin kauft, muss damit rechnen, dass die Steuerbehörden darin eine Steuerumgehung vermuten. In diesem Fall rechnen sie den vermeintlich steuerneutralen Zins dennoch zum steuerbaren Einkommen hinzu. Das Bundesgericht betont aber, das dürfe nur «in aussergewöhnlichen Konstellationen» geschehen.
Kürzlich hat das Bundesgericht im Fall eines Aargauer Ehepaars an konkreten Beispielen näher ausgeführt, wann von einer Steuerumgehung gesprochen werden muss und wann es sich noch um eine legale Form der steueroptimierten Vermögensverwaltung handelt (Urteil 2C_1145/2014 vom 1. Oktober 2015).
Bundesgericht anerkennt plausible Gründe für Obligationenverkauf
Als Steuerumgehung darf demnach der Obligationenkauf bzw. verkauf nur taxiert werden, wenn das gewählte Vorgehen ausschliesslich oder weitestgehend der Steuerersparnis dient. Liegen aber andere nachvollziehbare Gründe vor, so darf der Steuerpflichtige nicht dafür bestraft werden, dass er von einer Steuerersparnis profitiert. Erfolgt der Obligationenverkauf zum Beispiel, weil man mit schlechten Firmennachrichten rechnet oder ein allgemein steigendes Zinsniveau befürchtet, so ist der Verkauf plausibel, auch wenn er steuersparend kurz vor dem Zinstermin erfolgt.
Im konkreten Fall hatte das Aargauer Ehepaar eine Dollar-Obligation der Landesbank Baden-Württemberg mit 5,5 Prozent Zins 23 Tage vor dem Rückzahlungstermin verkauft. Dies nach einer Haltedauer von sechs Jahren. Dagegen sei nichts einzuwenden, meint das Bundesgericht, zumal das Geld kurz danach in einen Aktienfonds investiert wurde. Aktien seien sehr schwankungsanfällig und das Ehepaar sei wohl der Ansicht gewesen, jetzt sei der richtige Kaufzeitpunkt gekommen. Also keine Steuerumgehung.
Auch im Verkauf einer Franken-Obligation der N.V. Bank Nederlandse Gemeenten mit einem Zinscoupon von 2,5 Prozent nur
14 Tage vor dem Zinstermin sieht das Bundesgericht keine Steuerumgehung. Und dies, obwohl keine direkte Wiederanlage erfolgte. Das Ehepaar war knapp fünf Jahre im Besitz der Obligation. Das Bundesgericht erkennt kein «Element der Absonderlichkeit».
Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau hatte es hier noch verdächtig gefunden, dass die beiden Steuerpflichtigen ihre Anleihen mit Verlust veräussert hatten. Und dass sich dieser Verlust nur dank der Steuerersparnis in einen Gewinn verwandelt habe. Das Bundesgericht hält dem entgegen, die «Steuerplanung» sei eine erlaubte «Optimierung der Kosten». Und die Steuern stellten «ebenfalls einen Kostenfaktor dar».
Steuerumgehung ist für das Bundesgericht nur dann gegeben, wenn ein steuerfreier Marchzins «planmässig nach einem bestimmten Muster» angestrebt wird. Dies sahen die Lausanner Richter beim Aargauer Ehepaar bei der Veräusserung von drei Obligationen der Weltbank, lautend auf Isländische Kronen, gegeben. Das Paar hatte in drei aufeinanderfolgenden Jahren alle drei Obligationen jeweils schon im ersten Jahr nur wenige Tage vor dem Zinstermin wieder verkauft. «Dieses Vorgehen beruht nicht auf blossen Zufälligkeiten», urteilt das Bundesgericht. «Vielmehr wurde es bewusst gewählt, um die auf fällige Zinsen geschuldeten Steuern zu umgehen.»