Ein Bürogebäude im Circle, Flughafen Zürich. Es ist 11 Uhr. Auf einem der Bildschirme von Matthias Geissbühler tauchen neue Zahlen auf: Die Inflation in Italien ist um 1,3 Prozentpunkte auf 6,7 Prozent gesunken. Mit Befriedigung nimmt Geissbühler, Anlagechef von Raiffeisen, die Teuerungsrate zur Kenntnis. Er und seine zwei Mitarbeiter hatten einen Rückgang in dieser Grössenordnung erwartet. Die drei Analysten bilden das Investment-Office der Raiffeisenbank.
Neben der Inflationsrate taucht an diesem Morgen Ende Juni noch eine andere wichtige Kennzahl auf: der Konsumentenvertrauensindex (Consumer Confidence Index) von Deutschland liegt inzwischen bei minus 25,4 Prozent. Auch diese Daten bestätigen die Gesamteinschätzung der drei Analysten: Die Inflation im Euroraum sinkt. Doch die Raiffeisenökonomen erwarten einen Konjunkturabschwung im Euroraum. Für das kommende Jahr gehen sie von einem leichten Rückgang der Wirtschaft in der EU um 0,1 Prozent aus.
Vergleichsweise optimistisch schätzen die Analysten von Raiffeisen die Konjunkturentwicklung in der Schweiz ein. Für das Jahr 2023 prognostizieren sie ein Wirtschaftswachstum von 1 Prozent. Zum Vergleich: Das Basler Wirtschaftsforschungsinstitut BAK Economics geht von 0,3 Prozent aus. Bei der Inflation rechnen Geissbühler und sein Team damit, dass sie bis auf weiteres unter 2 Prozent verharrt. Mit einem Leitzins von gegenwärtig 1,75 Prozent habe die Nationalbank «den Zinsgipfel wohl erreicht». Aufgrund der gesunkenen Inflation gebe es «keinen Druck», den Leitzins deutlich weiter zu erhöhen.
Unzählige Daten und Zahlen ergeben ein Gesamtbild
Bei Raiffeisen basieren die Prognosen auf zahlreichen Daten, Indizes, Umfragen sowie auf politischen Ereignissen und Entwicklungen. Wichtigster Datenlieferant ist das US-Medienunternehmen Bloomberg. Unaufhörlich trudeln auf den Monitoren des Investment-Office von Raiffeisen Wirtschaftszahlen aus aller Welt ein. Die Aufgabe der drei Experten ist es, diese «Puzzleteile» zu sichten, zu analysieren und daraus ein Gesamtbild der Wirtschaftslage und der Finanzmärkte zu formen. Daraus leiten sie Prognosen ab.
Neben den nackten Wirtschaftszahlen berücksichtigen die Analysten auch weiche Faktoren wie die allgemeine Börsenstimmung und Prinzipien der Verhaltensökonomie (Financial Behavior). Zudem lesen die Anlagestrategen Zeitungen wie «New York Times», NZZ oder «Financial Times», um auch politische Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Finanzmärkte einschätzen zu können.
Die Grundstrategie für ausgewogene Anleger sieht bei der Raiffeisenbank so aus: 45 Prozent Aktien, 40 Prozent Obligationen, 10 Prozent alternative Anlagen (Gold und Schweizer Immobilienfonds) sowie 5 Prozent Liquidität. Matthias Geissbühlers Team gibt Empfehlungen ab, wie die einzelnen Anlageklassen unter- oder übergewichtet werden sollen. Dabei hat es einen Spielraum von plus/minus 15 Prozent.
Einmal im Monat trifft sich Matthias Geissbühler mit drei weiteren Raiffeisen-Kaderleuten, um über die Empfehlungen zu entscheiden. In diesem sogenannten Anlagekomitee wird eifrig diskutiert. Oft herrsche Konsens, manchmal komme es aber auch zur Abstimmung, sagt Geissbühler. Bei einem Patt hat der Anlagechef den Stichentscheid.
Die vom Anlagekomitee verabschiedeten Über- und Untergewichtungen der einzelnen Anlageklassen müssen die Manager der hauseigenen Strategiefonds, die Vermögensverwalter sowie die Anlageberater innert Tagen umsetzen. Welche Wertpapiere im Rahmen der festgelegten Anlagestrategie gekauft oder verkauft werden, bestimmen die für die jeweiligen Anlageprodukte zuständigen Portfoliomanager.
Die Prognosen des Teams sind alles andere als eine exakte Wissenschaft. «Es ist immer Interpretationsspielraum vorhanden», sagt Anlagestratege Tobias Knoblich. Persönlichkeit und Erfahrung der einzelnen Analysten spielen bei den Prognosen eine grosse Rolle. Je nachdem interpretieren sie die wirtschaftlichen Fundamentaldaten anders und ziehen daraus unterschiedliche Schlüsse. Oder sie ziehen Parallelen zu früheren Ereignissen: zurzeit etwa zwischen dem Boom von Unternehmen, die mit sogenannter künstlicher Intelligenz zu tun haben, und der im März 2000 geplatzten Internet-
Spekulationsblase.
Immer wieder kommt es zu Fehlprognosen
Die Experten werden oft von äusseren Faktoren überrascht. So prognostizierte Matthias Geissbühler Ende 2021, dass der Swiss Market Index stabil bleibe und Ende 2022 weiterhin bei rund 13'000 Punkten liege. Tatsächlich notierte der SMI aber fast 17 Prozent tiefer. Schuld daran war laut Geissbühler der Ukraine-Krieg, mit dem er nicht gerechnet habe.
Die bisher grösste Fehlprognose machten Geissbühler und sein Team im November 2021: Sie empfahlen, Aktien unterzugewichten. Denn sie gingen davon aus, dass sich bei der Pandemie nichts ändere und lange unklar bleibe, wer neuer Präsident der USA wird. Dann aber wurde Joe Biden relativ rasch zum neuen US-Präsidenten gekürt. Und die Medien schrieben, dass bald ein Impfstoff gegen Covid-19 zur Verfügung stehe. Das trieb die Aktienkurse nach oben.
Geissbühler vergleicht seine Arbeit mit der eines Piloten. Wenn dieser einen Flug bei Schönwetter starte, heisse das keineswegs, dass dies so bleibe. Vielleicht komme unterwegs ein Sturm auf, oder es werde wegen eines anderen Flugzeugs oder eines Vogelschwarms ein Ausweichmanöver nötig. «So müssen auch wir unsere Prognosen immer wieder anpassen.» Das Investment-Office-Team von Raiffeisen tauscht sich zudem regelmässig mit Berufskollegen anderer Banken aus. Wenn jemand bei den Prognosen völlig danebenlag, müsse der betreffende Kollege bei solchen Treffen natürlich auch einmal eine spöttische Bemerkung einstecken, sagt Geissbühler.
Strategieempfehlungen brachten Mehrrendite
Eine Stabsstelle der Raiffeisen-Gruppe wertet regelmässig aus, wie viel die Empfehlungen des Investment-Office wert waren. Laut dieser Auswertung brachten die Taktikempfehlungen der drei Analysten von Anfang 2018 bis Juni 2023 gegenüber der erwähnten Grundstrategie von Raiffeisen eine Mehrrendite von 0,7 Prozent.
Das höre sich nach wenig an, räumt Anlagestratege Jeffrey Hochegger ein. Allerdings verwalte Raiffeisen bei hauseigenen Fonds und Vermögensverwaltungsmandaten rund 15 Milliarden Franken. Dann seien 0,7 Prozent über 100 Millionen Franken. Zudem würden die Auswertungen zeigen, dass Raiffeisen mit seinen eher konservativen Empfehlungen dazu beigetragen habe, die Schwankungsbreite der Anlagen eng zu halten. So seien die Risiken für die Anleger geringer geblieben.
Empfehlungen für Anleger im Internet
Das Investment-Office von Raiffeisen gibt es seit 2018. Das Team von Anlagechef Matthias Geissbühler gibt verschiedene Publikationen heraus, die sich im Internet gratis herunterladen lassen. Die Anlageempfehlungen sind bewusst in einer gut verständlichen Sprache verfasst. Unter Raiffeisen.ch > Privatkunden > Anlegen > Märkte & Meinungen findet sich jeden Monat ein neuer «Anlageguide».
Dieser zeigt die Sicht von Raiffeisen auf die aktuelle wirtschaftliche Lage und die Finanzmärkte. Ergänzt werden die Einschätzungen jeweils durch ein Schwerpunktthema – in der August-Ausgabe etwa zum Anlageboom rund um die sogenannte künstliche Intelligenz. Weiter finden sich auf der Website ein wöchentlicher Marktkommentar, ein monatliches Währungsupdate sowie einzelne Anlagestudien, zum zu Bitcoin oder internationaler Diversifikation.